pressespiegel

       

      Frankfurter Rundschau: (Rockschau) Sa 21.08.93

      C h r i s t   u n d   M o r a l i s t
      Rio Reiser spielt auf "Über alles" mit der Volksmusik

      Rio Reiser hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Das ist er seiner Vergangenheit mit Ton Steine Scherben schuldig. Die Polit-Kult-Band der Siebziger stand auch für markige Slogans wie "Macht kaputt was euch kaputt macht" und "Keine Macht für niemand". Rundumschläge gegen Politiker, Militär* und Wirtschaftsbosse gehören immer noch zu seinem Repertoire. Sie führen eine friedliche Koexistenz mit romantischen, auch sentimentalen Liebesliedern. Reiser ist ein Moralist. Und er hält an sozialistischen Ideen fest. "Moral ist aber etwas eher Zweifelhaftes für mich", erinnert er sich an seine Jugend, als man mit solchen Begriffen versuchte, Leute klein zu halten. Für mich kann Moral nur de Sinn und Zweck haben, daß Menschen besser miteinander umgehen und auskommen." Auch die für viele zwangsläufige Assoziation zwischen "Moral" und "christlich" stößt Rio sauer auf. Mit der Institution Kirche hat er nichts am Hut. Ich könnte aber jederzeit sagen, daß ich ein Christ bin. Nur solange es Parteien gibt die das "christlich" in ihrem Namen führen und nicht danach handeln, habe ich damit meine Schwierigkeiten", bekennt der Sänger. "Was soll's ... Ich lese jedenfalls jeden Tag in meiner Bibel, und ich glaube nicht daß Helmut Kohl das tut, nicht mal der kleine Blüm". Einen Schuh zieht sich Reiser aber gerne an: "Ich bin Patriot." Er fühlt sich ausgerechnet mit dieser unpopulären Vokabel wohl.

      Für ihn heißt das, "daß ich noch immer auf der Suche bin: Wer sind wir Deutschen überhaupt, sind wir wirklich Schweine oder doch lieb und gut?" Er erinnert an Gustav Heinemann und dessen Wort von Deutschland als, schwierigem Vaterland. "Obwohl es für mich keine Heimat im eigentlichen Sinne gibt, könnte ich wohl nur hier leben", hat der Musiker erkannt. Das bedeutet für ihn, daß er sich nicht hinter Floskeln wie "Ich verstehe mich aber als Weltbürger" verstecken will. Ich kann im Ausland nicht mal mehr damit durchkommen, wenn ich betone, daß ich ein Linker bin. Die Geschichte dieses Landes ist auch meine Geschichte, und ich muß mich damit auseinandersetzen.", Also auch mit den neuen nationalistischen Strömungen und dem wachsenden Terror von rechts.

      Namen deutscher Dichter und Musiker wie Goethe, Schiller, Hölderlin, Schumann fallen ihm ein. "Frag doch mal heute wahlweise einen Freak, Punk oder eine Glatze, ob sie Hölderlin kennen. Aber wer soll sie ihnen wieder näherbringen? Vielleicht ich mit meinen Platten", schlägt Rio schmunzelnd vor, Reisers fünftes Solowerk, "Über alles" (Sony Music), ist in diesen Tagen erschienen. Als Texter zwischen Poesie und Rotzigkeit ist er einer der besten, wenn nicht die Nummer eins im Lande. Musikalisch überrascht er mit einer "Volksmusik" ("Schreib nur nicht volkstümliche Musik', warnt Rio) aus Beat, Polka, Ventures-Gitarren, Westcoast, Shanties und Bob Dylan, Mit dieser Mischung bin ich in den Sixties aufgewachsen: mit bayrischem Bilder- und Notenbüchlein und Musik aus dem AFN." Außerdem liebt er Klassik, singt zu Hause Am Brunnen vor dem Tore" vorm Kamin und läßt Produzentin Annette Humpe Rave- und House-Soundelemente ins Konzept einbringen. "Es ist ihre Aufgabe, die Platte kommerziell zu machen. Und wenn es mir gefällt, warum nicht?"

      Detlev Kinsler