Einen Genuss par excellence erlebten rund 100 Gäste auf dem Rio-Reiser-Hof in Fresenhagen. Mehr passten nicht rein ins Studio. Wer erst kurz vor Beginn des Liederabends "Bye bye Junimond" kam, hatte schlechte Karten und musste fast drei Stunden stehen. Auf Befragen einiger Stehgäste kam unisono die Antwort: "Das macht nichts, Hauptsache wir sind dabei." Recht hatten sie. Wer nicht dabei war, hat Gutes verpasst. Die beiden Interpreten Wunderlich und Martin Paul teilen die Liebe zu den Liedern von Rio Reiser und der Kultgruppe "Ton Steine Scherben". Sie sind ein tolles Team, das total aufeinander eingespielt ist. Die Schauspielerin und Diseuse und der Rock- und Theatermusiker und Komponist produzierten "Bye bye Junimond" mit Liedern, "die das Leben singt". Rocksongs voller Zärtlichkeit und Melancholie, Wut und Lebensfreude wechselten sich ab mit Liedern über Liebe und Leidenschaft. Rio Reiser und die "Scherben" haben all das besungen. Ihre Lieder schreiben inzwischen Geschichte. Wunderlich und Martin Paul sangen bittersüße Liebesballaden. Impressionen aus Fresenhagen waren zu hören. Songs aus den siebziger Jahren wurden mit energiegeladener Musikalität vorgetragen und rissen das Publikum mit. Über Rio Reiser wird gesagt, er habe die schönsten deutschen Kampf- und Liebeslieder geschrieben. Er war ein Romantiker, brachte Poesie in die Politik und hatte einen leidenschaftlichen Hang zum Aufruhr, zum Kitsch, zum anarchischen Patriotismus. Wunderlich arbeitete mit Rio Reiser in zwei Theaterproduktionen als Sängerin und Schauspielerin zusammen. Martin Paul traf mit Rio Reiser beim "Hoffmanns Comic Theater" zusammen und lebte und arbeitete mit "Ton Steine Scherben" in Fresenhagen bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1985. Im mit unzähligen Kerzen gemütlich ausgeleuchteten Studio auf dem Rio-Reiser-Hof hieß Gert Möbius, der Bruder des in Fresenhagen verstorbenen Rockmusikers, das Publikum willkommen. Rio Reiser wäre an diesem Tag 52 Jahre alt geworden. Paul spielte auf Reisers altem Bechstein-Flügel. Wunderlich sang mit rauchiger Stimme "Der Traum ist aus" von "Ton Steine Scherben". "Wir sind erfreut und bewegt, gerade an diesem Abend in Fresenhagen sein zu dürfen", sagte sie. Nach ihrem ersten Lied sollten noch 22 weitere folgen, die fünf Zugaben nicht mitgerechnet. Das Publikum wollte die beiden nicht gehen lassen. Doch irgendwann konnten sie nicht mehr. Doch bis es so weit war, sangen und erzählten die Künstler viel aus Rio Reisers Leben. 1980 zum Beispiel lieferten Tarotkarten Themen der Songs für eine seiner LP's. In seiner Küche zog der Künstler die Karten und schrieb die Texte. Auf diese Weise entstand dank der Herrscher-Karte auch das Lied "Gold". Da heißt es unter anderem: "Mein Name ist Gold, mein Name ist Geld, mein Name ist Ruhm und Macht. Und jeden Morgen, bevor du aufwachst, habe ich dich umgebracht."
Die Lieder, die Rio Reiser geschrieben hat, sind heute aktueller denn je, sagte Wunderlich, und stellte "Krieg unter dem Apfelbaum" vor. "Er ist nicht tot, der Krieg. Er liegt da unterm Apfelbaum und wartet auf mich und auf dich." Immer wieder lobte Wunderlich Fresenhagen. Das sei ein Ort zum Wohlfühlen, ein Zauberland. "Hier gehen die Uhren anders." Rio Reiser hat nicht nur ernste Lieder verfasst. Sein "Fernsehlied" ist ein fröhliches, kabarettistisches Meisterstückchen, das durch seinen Humor begeistert. Nicht selten geben die Lieder des Rockmusikers seine Seele preis. "Ich will ich sein, anders kann ich nicht sein." Oder: "Lass mich los, du hälst mich zu fest", zeugen davon, dass Rio Reiser ein enormes Freiheitsbedürfnis hatte.
Ursula Konitzki
["Nordfriesland Tageblatt", 15. Januar 2002]