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      Spiegel: 36-1986

      Rockmusik

      K ö n i g   R i o   I 
      Der neue deutsche Rock-Liebling Rio Reiser startet zu seiner ersten großen Tournee

      Er würde gern "Vivaldi hörn tagein, tagaus", aber noch lieber "Ronny mal wie Waldi in die Waden beißen". Er "wär chicer als der Schmidt und dicker als der Strauß", und die "Verstehen Sie Spaß"-Langweiler Paola und Kurt Felix müßten - ginge es nach ihm – "48 Stunden ihre Show ansehen". Diese Wunschvorstellungen, mit denen er nicht wenigen aus der Seele spricht, äußert der Sänger Rio Reiser in dem Song "König von Deutschland" auf seinem Solo-Debüt "Rio I."  Der schlaksige Musiker, der 1957 von einem Nürnberger Fabrikantenehepaar adoptiert und schon sehr früh mit Piano- und Violinunterricht gequält wurde, gilt derzeit bei vielen Fans und auch Kritikern als der beste Rocksänger der Republik. Wo Lindenberg für die "taz" längst zum "Nöhl-Udo" verkommen ist, Heinz-Rudolf Kunze mit jeder zweiten Song-Zeile den ehemaligen Lehrer raushängen läßt, Wolf Maahn auf "Tschernobyl" nur noch "Overkill" zu reimen weiß und Ina Deter gar dem sowjetischen Super-GAU ein "Herr Präsident, ich frage Sie ..." hinterherstammelt, bringt Rio die derzeitige Weltlage mit einem rockigen "Alles Lüge" voll auf einen Nenner.

      Frech bis rotzig war er schon, als er noch Ralph Möbius hieß. Den Spitznamen "Rio" bekam er später angehängt, und den Nachnamen Reiser entlieh er "weil Möbius zu sehr nach Arztroman klingt" - bei dem Aufklärungs-Klassiker Karl Philipp Moritz ("Anton Reiser"). Als besagter Ralph Möbius sang er bei der inzwischen zur Legende gewordenen Berliner Anarcho-Band "Ton, Steine, Scherben". Die Gruppe, die 1970 gegründet wurde und wie eine Vorwegnahme der Punks klang und aussah, forderte damals etwa "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" oder "Keine Macht für Niemand!" und geriet mit Textzeiten wie "Besuch doch heute abend deinen Chef und fahr mit seinem Mercedes weg" auch schon mal arg in die Nähe des Paragraphen 111 des StGB (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten).

      1972 waren die in der Szene nur noch kurz und knapp "Scherben" genannten Musiker bei der Besetzung des Berliner Georg-von-Rauch-Hauses dabei, und fortan galt die Band bei Anhängern und Polizei als "die Hausbesetzer-Kapelle". Folgerichtig kam es denn nach jedem "Scherben"-Konzert zur Diskussion mit dem Publikum - und zu einer anschließenden Hausbesetzung. Doch auch sonst gingen die Gruppenmitglieder recht ungewöhnliche Wege, ihren Unmut über die herrschenden Verhältnisse zu artikulieren. So zuckte beispielsweise der "Scherben"-Saxophonist Nickel Pallat bei einer WDR-Fernsehdiskussion zum Thema "Pop und Co. - die andere Musik zwischen Protest und Marx" ein ins Studio eingeschmuggeltes Beil, mit dem er, als der Produzent Rolf-Ulrich Kaiser gar zu larmoyant an der Sache vorbeischwafelte, kurzerhand den Tisch spaltete.

      1975 emigrierte man dann, der Lage an der Demo-Front Berlins leicht müde geworden, in den nordfriesischen Flecken Fresenhagen. Hier, zwischen friedlichen Kühen und Schafen, feilte das Musik-Kollektiv fortan im eigenen Studio an neuen Ideen. Zwischenzeitlich versuchte sich Rio auch als Schauspieler, und 1977 bekam er für seine Rolle in "Johnny West" prompt das goldene Filmband.  Anfang 1982 aber erlitten die "Scherben", die bis 1981 fünf Jahre lang nicht mehr live gespielt hatten, ein finanzielles Fiasko. Nach einer aufwendigen Tournee, bei der man mit großem Aufwand in noch größeren Hallen für ein geringes Eintrittsgeld spielen wollte, hatte die Band plötzlich einen Schuldenberg von rund 300 000 Mark akkumuliert. Zwar machte man noch tapfer eine Weile weiter, doch im Juni 1985 löste sich die Gruppe wegen unüberbrückbarer finanzieller Problerne auf. Rio, der einmal "Allein machen sie dich ein" gesungen hatte, machte nun allein weiter. Es brauchte zwar einige Oberredungskunst, den vom Rock-Geschäft etwas angewiderten Musiker zu einem neuen Anfang zu bewegen. Doch in seiner Wahlheimat Berlin entstand dann - unterstützt von erstklassigen Studiomusikern - die LP "Rio I.", mit der sich der Sänger keß zum König der deutschen Rock-Barden aufschwang.

      Was diese Platte ihre knisternde Spannung gibt, ist die bewußte Auswahl der Musiker. So gaben sich bei manchen Titeln aus so unterschiedlichen Lagern wie der Peter-Maffay-Band und der Aventgarde-Combo "Einstürzende Neubauten" ein Steildichein im Studio. Aber auch textlich gibt sich Rio heute wesentlich konzilianter. Wäre es ihm in den Siebzigern nicht im Traum eingefallen, ein Liebeslied ins Repertoire aufzunehmen, so singt er heute mit "Für immer und Dich" und "Junimond" überzeugend gleich zwei. Auch die politischen Texte des einstigen Anarcho-Rockers haben eine andere Färbung bekommen. Waren es früher eher rüde, dogmatische Kampfparolen, so versteht er sich heute auf eine feine, aber stets beißende Ironie.

      Rio Reiser hat in all den Jahren als Musiker eine Beziehung zur Sprache entwickelt, die assoziativ ist, von Bildern lebt und trotzdem immer auf den Punkt trifft. Eine Fähigkeit, die Udo Lindenberg in eben jener Zeit Stück für Stück verloren hat und die all die Klaus Lages, Ina Deters, Peter Maffays etc. in diesem Leben auch nicht erlernen werden. Rio Reiser, der sich heute von fanatischen "Scherben"-Anhängern sagen lassen muß, er sei zum Schlagerfuzzi verkommen, kann dank seiner überzeugenden Songs solche Anwürfe locker wegstecken und sich Kollegenschelte ungestraft leisten. Auf seiner Tournee, die ihn im September durch die deutschen Lande führt, wird er sich als die Altemative zum zeittypischen Gesichtslos-Rock präsentieren.

       Und gegen Erfolg - Rio: "Es gibt Schlimmeres, als Kunsthure zu sein" hat er durchaus nichts einzuwenden. Er würde heute sogar, "wenn's sich wirklich nicht vermeiden ließe", seinen "König von Deutschland" in der ZDF-Hitparade vortragen.