Reiser, 40, einst Sänger der Band "Ton Steine Scherben" und als deutsche Mick-Jagger-Ausgabe gerühmt, arbeitet heute solo. Seine jüngste Platte, soeben bei CBS erschienen heißt schlicht "Rio III Reiser". Peter Handke hat versucht, es den deutschen Intellektuellen leichtzumachen, damals ī66. In der Anweisung für die Schauspieler seiner "Publikumsbeschimpfung" gibt er ihnen unter anderem den Rat sich "Tell Me" von den Rolling Stones anzuhören. In seiner unendlichen Weisheit empfahl er "Tell Me" und nicht etwa "Satisfaction".
Wer sich "Tell Me" heute anhört, wird feststellen, daß hier gar keine Zeit mehr war, die Gitarren zu stimmen, geschweige denn Klangcollagen auszutüfteln. Diese Songs mußten hier und jetzt gespielt und aufgenommen werden. Auch wenn das Tarnbourin dem Tonmann das Trommelfell zerfetzt hätte. Na klar, so schlimm wird's vielleicht nicht gewesen sein, aber so ähnlich.
Als ich diese Sachen zum erstenmal hörte, fiel mir sofort ein Wort ein: blutig. Fünf Dilettanten, die ihre Lieder nie geprobt, immer nur gespielt hatten, im Vertrauen auf Gott und Benzedrin. Scheiß auf die Virtuosität, ihr wißt schon, was wir meinen. Klasse, was? Hört sich gut an, ne? Ist es auch. Da helfen kein Computer und kein digitales Was-weiß-ich-wieviel-Spur-Studio, kein choreographisches Rumgehopse jaggerseits und keine makrobiotische Kost. Ich habe das Gefühl, sie geben sich alle Mühe, es schön sauber und ordentlich zu machen, aber auf den letzten Metern der Studioarbeit scheint der "besten Rock'nīRoll-Band der Welt" alles egal zu sein. Und was rauskommt, was wir dann mit unseren Tonköpfen, Saphiren und Laserstrahlen abtasten, ist eben doch ziemliche Schlamperei. Das gehört sich auch so. Wer hat denn in die Welt gesetzt, daß Rock was mit Ordnung zu tun hat, mit Tempo halten, exakter Dreistimmigkeit, gestimmten Gitarren und gepflegten Soli? Ich nicht.
Wenn es bei Rockmusik um etwas geht, dann um Ekstase. Und die Tonleiter der Ekstase hat nun mal mehr als zwölf Töne. Vielleicht hat Leonard Bernstein, als er sich im Madison Square Garden hinter Keith Richards' Verstärker gesetzt hat, noch einige entdeckt. Zu den Anfängen der Stones! Folgt mir! Der Schluß von "The Last Time"! Ward dergleichen je in Vinyl gepreßt? Ein völlig überdrehter Sänger, der hysterisch "I don't know"' kreischt, während zwei weggetretene Gitarristen immer wieder "Maybe the last time" gröhlen. Hat sich des weißen Mannes Seele je so weit vorgewagt? Ich weiß nicht.
Andererseits: Würden die Übergänge zwischen Madrigalen und Rhythm and Blues jemals wieder so fließen wie in "Lady Jane", "The Singer Not The Song", "Out Of Time" etc.? Wo gaben sich Johnny Cash, Wastl Fanderl, Muddy Waters und John Dowland jemals wieder die Hand, wenn nicht auf den frühen Stones-LPs. Und plötzlich hatten die Linken ja ihr Herz für die Stones entdeckt. Uwe Nettelbeck seiīs gedankt. Schlau wie sie waren, hatten sie sich nicht an einen Guru gehängt, wie so manche andere Gruppe der sechziger und siebziger Jahre. Nein, sie sangen vom "Street Fighting Man". Das hörte sich gut an. War von der Musik her aggressiver als "Revolution", und die Zeile "īcause in sleepy London town thereīs just no place for a street righting man" wurde überhört.
Als die Stones dann aber nach Berlin kamen, wurde der Eintrittspreis "allgemein" als zu hoch empfunden. Eigentlich hätte uns das nicht stören sollen, denn wir hatten ja schon lange unsere Mittel und Wege gefunden, in Konzerte zu kommen, ohne eine milde Mark abzudrücken. Aber es ging ums Prinzip. Und so wurde im eingeweihten Kreis beschlossen, Mick Jagger zu erschießen. Im Prinzip war aber keine Waffe da, und der Verfassungsschutz stand auch noch nicht Gewehr bei Fuß. So bliebīs beim Stürmen. Und Jagger beim Singen: "Here you got your fucking Zugabe!"
"Ta ta tata taaaa", und dann kam "Settisfekschn", und wir waren glücklich. Der Frontmann der Stones wurde also nicht von einem Fan erschossen. Man kann schlecht sagen, Mick Jagger lebt, wie das so schön bei Jesus, Elvis und James Dean geht. Auch haben sich die Stones nicht aufgelöst, weil sie "sich nichts mehr zu sagen hatten". Sie hatten sich wohl sowieso nie viel zu sagen.
Irgendwann hat Paul McCartney mal behauptet, die Stones hätten den Beatles alles nachgemacht. Sieht ja auch auf den ersten Blick so aus. Auf "Yesterday" folgte "As Tears Go By" auf "Revolver" "Between the Buttons", auf "Sgt. Pepper" The Satanic Majesties Request". Mag sein. Daß Andrew Loog Oldham, der Manager der Stones, ein abtrünniger Presseoffizier aus dem Hause Brian Epstein, sie immer wieder auf die Fersen der Beatles gehetzt hat. Auf dem Einband von "Satanic Majesties" kann man ja ganz klein, in vier Blumen versteckt, die Köpfe von John, Paul, George und Ringo erkennen. Aber was sollīs. Die Stones waren einfach unfähig, etwas zu kopieren; Chuck Berry nicht, Buddy Holly nicht weder Soul noch Motown. Und sie könnenīs heute noch nicht. Sie können nicht mal ihre eigenen Titel richtig nachspielen. Die Stones sind die Stones. Und nur Dilettanten können ihnen den Whisky reichen.
Handgemacht ist jetzt angesagt. Tod dem Computer. Da steht dann eine Band auf der Bühne, die nur ein klein bissel den Computer zu Hilfe nimmt; und sonst ist alles echt gespielt und klingt wie auf Platte. Was ist denn daran so bewundernswert? Der Schweiß? Die viele Zeit, die der Künstler beim Üben verbracht hat? Wer übt, kann nichts. 1969, nach Brian Jonesī Tod, ging das Gerücht, die Stones suchten für ihre Tour einen Gitarristen, der sich selber schminken kann. Und wen haben sie bekommen? Mick Taylor, einen jungen Dudler. Einen, der kein Solo auslassen konnte und es dem alten Keith Richards mal so richtig zeigte. Den hatten sie nicht verdient, der Mann verschwand und wurde ersetzt durch Ron Wood, für den eine Gitarre nur ein Stück Holz ist, das höllisch Krach machen kann.
Kann Jagger singen? Nein. Genausowenig wie ich. Aber er tut's. Kann Jagger tanzen? Genausowenig wie Grönemeyer. Aber er tut's. Beherrscht die Band ihre Instrumente? Sie beherrschen sie nicht, sie bedienen sie nicht, sie haben sie in der Hand. Was ist ein Schlagzeuger, der nie treibt und niemals schleppt? Ein Bassist, der niemals den Einsatz verträumt? Ein Gitarrist, der nur auf sein Solo wartet? Langweilig. Und manch durch Jogging jung gebliebenes Herz fragt sich jetzt: Müssen diese Greise eigentlich immer noch auf der Bühne rumhopsen? Sie müssen. Denn: Auf einem rollenden Stein wächst kein Moos. Nur auf seinem Bankkonto.
Rio Reiser