pressespiegel

homemusikpinwandphotospresseinfopressespiegelbiographieverein

       

      Spiegel: 35/1996

      Nachruf

      D e r  e i n z i g e  R o c k e r
      Blixa Bargeld zum Tod von Rio Reiser

      Rio Reiser begegnete mir erstmals, als ich Anfang der siebziger Jahre begann, Musik zu hören. Seine Band "Ton Steine Scherben" hatte die Platte "keine Macht für niernand" herausgebracht, die Initialzündung für die deutsche Rockmusik.

      Es hat sofort funktioniert. Ton Steine Scherben waren die beste Alternative zu einem schlechten Tag, sie spendeten Kraft und Identität.

      Ton Steine Scherben waren die einzige Band, der es gelang, die Idee von Rockmusik eins zu eins ins Deutsche zu übertragen. Die meisten reduzierten sie auf den Begriff "PolitBand", aber der direkte Ausdruck eines Lebensgefühls, einer Haltung, eines Gedankens ist nicht bloß politisch, sondern er ist zugleich der Sinn von Rockmusik überhaupt. Ihre Musik war wahr, der Text war deutsch. Und das Jahre bevor andere sich ganz selbstverständlich das Recht nahmen, deutsch zu singen. Rio hat es vorgemacht - und er ist für mich der einzige deutsche Rocksänger geblieben. Seine musikalischen Vorbilder waren Liverpool, Merseyside, die Beatles; später, noch viel mehr, die Rolling Stones. In dieser Tradition schrieb er klassische Songs, nicht nur für Ton Steine Scherben, sondern auch für freie Theatergruppen wie das "Kollektiv Rote Rübe" und das erste deutsche Schwulen-Theater "Brühwarm". Jeden guten Song verstand er als kleines Universum.

      Ton Steine Scherben waren die ersten, die ihre Platten selbst hergestellt und vertrieben haben, lange bevor der Begriff "lndependent" aufkam und bald zu einer schwammigen Stilbezeichnung verkam. Sie entzogen sich den Produktions-bedingungen des Musik-Business: Rio und die Scherben konnten ihre Aufnahrnen auch in einer Turnhalle machen, im Tommi-Weißbecker-Haus oder zu Hause.

      Mitte der siebziger Jahre sah und hörte ich zum erstenmal Ton Steine Scherben auf der Bühne: Ich habe noch nie jemanden in Deutschland singen gehört und gesehen, der wie Rio in der Lage war, innerhalb von Sekunden eine intime Beziehung, geradezu eine Liebesbeziehung, mit jedem einzelnen seiner Zuhörer aufzubauen.

      Singen vor Publikum ist eine eigenartige Beschäftigung: Man kann das Blut, das man den Menschen entzieht, wie ein Vampir schlucken, oder man kann es verwandeln und zurückgeben.

      Rio Reiser strahlte Kraft und Machte aus, die er vom Publikum bekam, und er gab sie wieder zurück. Charisma ist eine Fähigkeit, die sich nicht erlernen läßt, und sie hat nichts mit Image und bloßer Bühnenpräsenz zu tun. Selbst bei einem banalen Song konnte er irgendein bestimmtes Wort so singen, daß es einem kalt den Rücken runterlief.

      Später lernten wir uns kennen, und ich war öfters in Fresenhagen, wohin die Scherben 1975 aus Berlin geflüchtet waren, zu Besuch. Wir haben die Nächte durch geredet., haben gequatscht über das Neue Testament und Politik, über Astrologie und Musik und Über das Singen überhaupt. Vermutlich wäre auch ich nicht so einfach dazu gekommen, deutsch zu singen, wenn es Rio nicht gegeben hätte.

      Ton Steine Scherben waren der vielleicht einzige gemeinsame Nenner, auf den sich jeder beziehen konnte. Musikalisch waren ihnen die "Einstürzenden Neubauten" nicht besonders nahe, aber von der Motivation und Intention her schon. So tauchten zum Beispiel bei unseren ersten, sehr spontanen Konzerten immer wieder Scherben-Fragmente auf. Sie brachen aus uns heraus.

      1985 lösten sich die Scherben auf, und die Soloplatten. die Rio Reiser danach machte, mochte ich nur zum Teil. Aber er selbst hat mal gesagt, daß seine Solokarriere mit Songs wie "König von Deutschland" nur ein Mittel sei, um die hochverschuldeten Ton Steine Scherben eines Tages wiederauferstehen zu lassen. Für mich haben sie sich nie aufgelöst. Sie haben nur vorübergehend aufgehört zu spielen.

      Rios Art zu ]eben und zu singen war kräftezehrend. Daß er mit 46 Jahren gestorben ist, erfuhr ich, als ich in einer Radiosendung saß und gerade ein Interview beendet hatte. Ich habe nur ein einziges Wort gebrüllt: "Scheiße!"

       

audiovideozeitreiselinksbestellungimpressumkontakthome