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      Spiegel: 43-1994

      R e q u i e m
      f ü r  e i n e  R e v o l t e
      Sie lieferten den Soundtrack zum Aufbruch einer Generation: "Ton Steine Scherben" war Deutschlands erste echte Rockband. Seit 1985 gehen die Scherben-Mitglieder getrennte Wege: Ihre Lebensläufe stehen exemplarisch für die Triumphe und Niederlagen der Nach-68er.

      Ich hörī große Worte /
      Aber ich weiß /
      da isīīne Bombe in der Torte.
      Ton Steine Scherben

      Fresenhagen ist so klein, daß es keine Straßennamen, nur Hausnummern braucht. Der Waldweg durch das Dorf endet beim reetgedeckten Haus Nr. 11. Unter dem Sonnenschirm sitzt Sekretärin Tina im buntgeblümten Kleid und blättert im Nordfriesland Tageblatt, das einen Diavortrag über die kleinste deutsche Hallig in der Dagebüller Kirche empfiehlt. Sie wartet, daß Rio Reiser aufsteht. Im Haus rührt sich nichts. An die Tür ihres Arbeitgebers zu pochen, wagt Tina nicht. Seit Tagen hat sie Rio Reiser nicht gesehen; und ob er aufstehen wird, ist zweifelhaft. "Das weiß man nie", sagt Tina. Ihr Sekretärinnenjob, soviel ist bald klar, hat weniger mit Stenoblock und Schreibmaschine zu tun als mit der Kunst geduldigen Wartens. Lanrue dagegen, ein sanfter, untersetzter Mensch, werkelt an diesem Tag schon seit Stunden in seinem Anbau herum. Sein Domizil liegt versteckt hinter Birnbäumen; und es ist Wohnzimmer, Schlafzimmer- und Musikstudio in einem. Mit Blick auf grasende Kühe hat die Band Ton Steine Scherben, deren Kopf Rio Reiser und deren Motor Lanrue war, dort zehn Jahre lang Musik gemacht. Kraftvolle Musik mit aggressiven und mitunter sehr verträumten Texten. Musik für Leute mit schönen Illusionen und für Leute mit Wut.

      Nun, im Herbst 1994, archiviert Lanrue die letzten Zuckungen der Band. Mit einer Gedenk-CD - im nächsten Jahr jährt sich die Ton-Steine-Scherben-Gründung zum 25. Mal - will er bislang unveröffentlichte Studioaufnahmen und Live-Mitschnitte für die Nachwelt retten. "Dann" sagt Lanrue fest, "ist das Kapitel Scherben für mich beendet. In einem Berliner Hinterhofstudio hatte Ton Steine Scherben 1970 zusammengefunden - jene Band, die bis heute als einzig revolutionäre Rockgruppe Deutschlands verehrt wird. Lanrue. der Gitarrist, gehörte zu den Gründern, Rio Reiser natürlich und der Bassist Kai Sichtermann. Sie bilden den harten Kern der Gruppe, zu der ehemalige Steuerberater wie der Saxophonist Nikel Pallat stoßen, Lehrlinge und Kreuzberger Trebegänger.

      Sie alle machen Musik, bei der es nicht unbedingt auf die virtuose Beherrschung von Instrumenten ankommt. Technisch mangelhaft, rauh und direkt, brüllen, klampfen und trommeln die Musiker das heraus, was in der Berliner Luft liegt: Ton Steine Scherben, von den eher in Charlottenburg und Dahlem ansässigen Studentenkadern halb belächelt und halb - wegen ihres Proletengeistes - bewundert, liefert den Soundtrack zum Aufbruch ihrer Generation.

      In glücklichen Momenten bringen sie Klassiker wie "Keine Macht für niemand" oder "Ich will nicht werden, was mein Alter ist" zuwege. Die Scherben singen "Ich will ich sein", und nicht nur musikalisch machen sie sich auf die schwierige Suche nach dem, was das Leben lebenswert macht. Die eigentliche "historische Großtat" der Anarcho-Truppe, urteilt die Tageszeitung rückblickend, sei "die Erfindung Kreuzbergs" gewesen. 1970, schreibt Rio Reiser in seiner Autobiographie*, "ging das Gerücht, daß es in Kreuzberg noch echte Jungproleten gebe, wie sie in den Broschüren vorkommen". Die Folgen sind bekannt. Heute steht der Name Ton Steine Scherben nicht nur für den Mythos Kreuzberg, sondern auch für die verlorenen Illusionen und Irrtümer, für die Niederlagen und Triumphe einer Generation, die gegen Eltern und Lehrer aufbegehrte, die gegen den Staat antrat und versuchte, allen Geboten und Verboten zum Trotz ihr eigenes Lebensprogramm zu verwirklichen. Die Gedenk-CD soll diesen Aufbruch festhalten. Wenn Lanrue jedoch heute von seinem Entschluß erzählt, sich von den alten, großen Tagen mit einem würdevollen CD-Abgang erster Klasse zu verabschieden, klingt das merkwürdig ratlos: "Wie", fragt Lanrue, "beerdigt man ein Lebensgefühl?" Seinen freakigen Kleidungsstil, von der Modeindustrie dieses Jahr neu als "Hippielook" ausgerufen, hat der Deutschfranzose beibehalten. Noch immer trägt er seinen alten breitkrempigen Hut auch in geschlossenen Räumen auf dem Kopf, noch immer trägt er ein buntbesticktes Westchen und die Haare lang. Es scheint, als habe Lanrue auch seine Überzeugungen hinübergerettet in die neuen Zeiten. Kein Ausverkauf an die Plattenindustrie: Diese eiserne Scherben-Regel galt 1985, als Lanrue und Reiser die hochverschuldete Truppe auflösten, das gilt, trotz gutdotierter Angebote für ein Revival, auch heute. Eine Wiedervereinigung der Band kommt für Lanrue, heute 44, nicht in Frage. Der Mythos darf nicht durch eine müde Neuauflage zerstört werden, deshalb: Aus, basta, Schluß. Und vorbei?

      Will keiner mehr wissen, wonach die Songs der Band fragten, "wofür Radios laufen" zum Beispiel, und "wofür Häuser kaufen"? Weckt der Protest ihrer Generation, der sich in Streiks, Schwarzfahr-Kampagnen und Hausbesetzungen niederschlug, nur noch die Neugier der Geschichtsforscher? Ist die Forderung nach Rezepten für ein besseres Lieben nur ein peinlicher Anachronismus?

      Nach wie vor landet Fanpost im friesischen Landidyll, Jahr für Jahr werden Tausende von Platten abgesetzt, so als ob nichts geschehen sei. Zum Mißvergnügen der einstigen Bandmitglieder machen sich selbst rechte Musikgruppen wie Störkraft die Schlagkraft der Scherben-Songs zunutze. Im deutschen Osten, wo Musiker damit werben, Ton-Steine-Scherben-Songs , "original" nachzuspielen. zählen sie, gleich nach den Stones, zu den bekanntesten Gruppen.

      Auch im Westen taugen Rio und seine Kumpane für junge Musiker als Vorbilder, denen es Respekt zu entbieten gilt: So hat jüngst die Berliner Band Corazon eine Techno-Version von "Macht kaputt, was euch kaputt macht" aufgenommen. Und wenn die Hamburger Frauenband "Die Braut haut ins Auge" den alten Scherben-Song "Jenseits von Eden" auf ihren Tourneen spielt, vergißt Sängerin Bernadette Hengst nie, auf den Urheber hinzuweisen. "Die sind für mich", sagt die 26jährige, "die beste deutsche Rockband überhaupt."

      Der Satz ist längst so was wie der kleinste gemeinsame Nenner nationaler Rockgeschichte. Ob Marius Müller-Westernhagen oder Heinz Rudolf Kunze, ob Spex-Kritiker oder akademischer Erforscher der Popkultur: Alle weben an der Ton-Steine-Scherben-Legende. "Wir haben die uralten Fragen nach Glück, Liebe, Freiheit gestellt" sagt Richard Herten, 41, der 1983 zu Band stieß. "Heute gibt es tausend Antworten, und keine paßt."

      Auch Sängerin Bernadette Hengst scheint sich nach einer Zeit der klare Konfrontationen zu sehnen, die sie selbst allenfalls als Kind vor der Glotze erlebt hat: "Heute ist alles so richtungslos, alles liegt heute soweit auseinander." Es waren, kein Zweifel, eher simple Schwarzweiß-Deutungen, die der Scherben-Generation die Revolte erleichterten. Mittlerweile aber ist das schlichte Spießer-Feindbild, das sie entwarf, ungültig geworden. Deshalb hat sich auch der Gegenentwurf erledigt, die Anti-Spießer-Kultur, die in den siebziger Jahren eine ganze Generation einte. Da singt Ton Steine Scherben "Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus" und besetzt anschließend mit ihren Fans auch das nächstbeste leerstehende Haus. Mal räumt die Polizei sofort, mal gibt es schöne Erfolge: Als die Band mit Kreuzberger Jugendlichen das leerstehende Bethanien-Hospital einnimmt, dürfen die Besetzer bleiben, ein Gebäude, das Georg-von-Rauch-Haus, wird zum Jugendzentrum umgebaut.

      "Wir haben keine Angst zu kämpfen, denn die Freiheit ist unser Ziel", singt Rio Reiser, aber auch "Ich hatte īn Fehler im Gehirn ... Mama war so, Papa war so, ding-a-ding". Die verwirrende Mischung aus Kraftparolenmeierei und Nonsens-Texten paßt in kein vorhandenes Raster - so was hat es bislang nicht gegeben. Wie aber soll man die Scherben-Leute politisch einordnen? Die Polizei hält sie für eine gewaltbereite linke Gruppe. Bei einer Hausdurchsuchung konfisziert sie in der Wohnung der Band 6000 harmlose Zwillen aus dem Spielwarenhandel, gedacht als Beigaben zur selbstvertriebenen Platte "Macht kaputt, was euch kaputt macht". Für die Beamten ist das "unerlaubter Waffenbesitz".

      Mißverständnisse gibt es auch bei der intellektuellen Anhängerschaft der Band - zumal die Wortführer der sogenannten Studentenrevolte nehmen Anstoß: In der Sozialistischen Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft rügen sie die "Macht kaputt"-Parole als irrwitzige Zielsetzung, "die den proletarischen Interessen Hohn spricht". Die Scherben verstehen ihre Aktionen dagegen als befreienden Spaß. Damit läßt sich kein System verändern, wohl aber verärgern.

      Das Friede-Freude-Eierkuchen-Leben der Scherben scheitert endgültig erst 1985 - für die Generation, deren Idole sie waren, ist es da schon längst vorbei. Als die Paradeband des Siebziger-Jahre-Aufbruchs ausgerechnet an den ökonomischen Verhältnissen zerbricht, quittieren das viele mittlerweile etablierte 68er mit Schadenfreude. Gitarrist Lanrue klingt, als sei er beleidigt: "Wir waren mal so was wie die deutschen Rolling Stones. Dann machten wir eine ausverkaufte Tournee, und plötzlich hatten wir 300000 Mark Miese." Eine Menge Schulden, ein Scherbenhaufen - ist das alles, was übrigblieb? Das Ende der Band kommentiert Reiser heute ironisch: "Auch da sind wir exemplarisch, jeder macht vor sich hin und versucht, Land zu gewinnen."

      Und was wurde aus den Bandmitgliedern, die sich nicht wie Rio Reiser und Lanrue im Fresenhagener Refugium verkrochen, um dort an neuen Musik- und Buchprojekten zu basteln? Richard Herten, in der Schlußphase der Band für Percussion zuständig, arbeitet inzwischen für die Grünen. Hoch unter dem Dach von Haus Wittgenstein, einer alten Villa, die den Bundesgrünen als Residenz dient, hat Herten mit einem anderen ehemaligen Scherben-Mann, Martin Paul, das "Büro Grün" aufgemacht, das in einem Chaos aus Computern, Plakaten und Pflanzen, Parteitage der Alternativen organisiert. Nebenbei betreibt er am Bonner Bundeskanzlerplatz mit Freunden einen Kabarettladen, das "Pantheon". Auszug aus dem aktuellen Programm: "Macht verrückt. was euch verrückt macht."

      Ist der einstige Anarcho-Rocker nun also eine Art Hofnarr jener Politikerkaste, die er einst als Musiker verspottete? Nein, sagt er - und doch sehne er sich nach Fresenhagen zurück: "Wäre es nach mir gegangen, hätten sich die Scherben nie getrennt." Auch Claudia Roth gehörte mal zur Ton-Steine-Scherben-Gemeinschaft - sie organisierte die Tourneen der Band und trieb die Gagen ein. Als sie irgendwann Anfang der Achtziger Jahre am Küchentisch in Fresenhagen die Tageszeitung durchblättert, stößt sie. direkt neben einer Annonce für die letzte Scherbenplatte. auf eine Anzeige der Bonner Grünen, die eine Pressesprecherin suchen. Das sei Psi, erkennt die um den Küchentisch versammelte Scherbenfamilie sofort: Eine übersinnliche Macht spielt Berufsberater.

      Roth bewirbt sich und macht Karriere. Heute sitzt sie als Europa-Abgeordnete im Straßburger Parlament und spielt mit im System. "Ich mache Politik wie früher", sagt sie, "nur auf einer anderen Bühne." Asyl, Kurden, Menschenrechte, die Schwulen und die Lesben - Claudia Roth kümmert sich um und möchte alle retten. An dem Glauben. daß die Welt schon bald besser, friedlicher und bunter wird, wie die Aufbruch-Generation träumte, hält Roth fest. Auf dem Christopher Street Day, dem Schwulenfest in New York. zitierte sie, zur Ermutigung, den Scherben-Song "Wenn die Nacht am tiefsten ist. dann ist der Tag am nächsten." Tausende applaudierten, nach ihrer Rede sang Liza Minnelli. "Ich habe mich", schwärmt Roth unbefangen, "unbeschreiblich gefühlt."

      Mit solchen Sätzen macht sich die Politikerin angreifbar. Über ihren naiven Glauben an das Gute spotten Leute, die sich für intelligenter halten, weil sie wissen, daß die Welt nie friedlicher und bunter wird. Doch sie haben auch nicht den Beschluß zur Gleichstellung von Schwulen und Lesben im Europaparlainent durchgepaukt. Das war Claudia Roth.

      Britta Neander war schon in den wilden Berliner Tagen Mitglied der Ton-Steine-Scherben-Truppe. Wenn sie heute aus dem Fenster ihrer Wohnung in der Kreuzberger Waldemarstraße blickt, kann sie das Bethanien-Gelände sehen, das die Band einst besetzt hatte. Heute, mit 37, lebt die zerbrechlich wirkende Frau mit Tochter Ayana von der Sozialhilfe, ab und an geht sie putzen. Und für drei Mark in der Stunde arbeitet sie auf dem Kreuzberger Kinderbauernhof: "Zukunftsmäßig", sagt sie, "sieht es ein bißchen schlecht aus."

      Mit den Scherben dagegen fühlte sich die Tochter des früheren Welt-Redakteurs Paul Neander so, als würde sie die "Tür zu einer Welt aufmachen, zu der mir vorher der Schlüssel fehlte". Als sie beschloß, mit der Band zu leben, hatte sie ein Handikap: Sie konnte keinen Ton Musik. Die Scherben bringen ihr Percussion, die Beherrschung von Kuhglocke und Tambourin, später Schlagzeug bei und stellen sie mit auf die Bühne. "Die haben mir Power gegeben", sagt Britta.

      Heute illustriert sie Kinderbücher, die kein Verlag abnehmen will. In ihren heiteren, naiven Bildern vollbringt ein sanfter Jesus mit Heiligenschein seine Wunder im Kiez: Mal wandelt er über das Wasser eines Schwimmbeckens im Prinzenbad, mal absolviert er mit dem Skateboard Christi Himmelfahrt. Friedliche Anarchos mit ihrem Glauben an eine bessere Welt, hat Britta gelernt, gelten inzwischen selbst bei Leuten, die an ein Jenseits glauben, als lächerliche Figuren. Nachts aber dröhnen noch immer voll aufgedrehte Scherben-Songs aus der Punk-Kneipe nebenan in ihre Wohnung. Mitte der Siebziger gibt Funky eine Annonce auf: "Schlagzeuger zwischen Zen und Mao sucht Gruppe", die Scherben melden sich. Sie stellen eine Bedingung : Funky muß bei Ihnen wohnen. Abgeschreckt vom linken Polit-Image der Gruppe fürchtet der Musiker, in einer Wohnung mit Marx- und Leninporträts an den Wänden zu landen. Als er entdeckt, daß die Wohnzimmerdecke als Nachthimmel ausgemalt ist, mit Sternen und dem Saturn, zieht der Hippie ein. Rio Reiser wird zu seinem "Pioniertexter", auch wegen Songzeilen wie "Der Sommerwind / streicht mir um die Nase / Ich sehī das Paradies in īner Blumenvase." Die Lebensbedingungen der Scherben-Wohngemeinschaft hat Funky, und dafür hat er seit kurzem einen verschärften Blick, als familienuntauglich in Erinnerung. Der 43jährige, der heute Filmkulissen baut und in einer Sambagruppe trommelt, ist nun da gelandet. wo er nie hinwollte, in der Kleinfamilie. "Ich finde das", sagt er, ohne sich um Prinzipien früherer Tage zu kümmern, "ganz toll."

      Die Band, glaubt Funky, wäre heute chancenreicher als je zuvor. "Die Leute wollen unsere Musik. "Vermutlich würde die Musikindustrie den Soundtrack des Aufbruchs zum modischen Revival pervertieren, diesmal mit genügend Ton-Steine-Scherben-T-Shirts und jeder Menge Bierständen. Wenn er "König von Deutschland wär", verspricht Solosänger Reiser nach dem Scherben-Ende, würde er "die Lottozahlen īne Woche vorhersagen", und bei der Bundeswehr "gäbīs nur noch Hitparaden". Den Titel hat er abgegeben: Am 11. 11. 1990 setzt er Gregor Gysi ein Pappkrönchen auf, der PDS-Chef revanchiert sich mit dem rosa Parteiausweis bei dem Sänger.

      Die Linke war nach der Wende völlig paralysiert, da waren die von der PDS die einzigen, die noch Ost-Interessen formulieren", sagt Reiser. Mehr als einen provozierenden Gag will er, dem "Schubladendenker verhaßt" sind, dennoch nicht in seinem PDS-Engagement sehen: "Wenn Gysi Kanzler wird", behauptet er, "trete ich wieder aus." Kohl ist Kanzler geblieben, einen Tag vor seiner Wiederwahl hatte in Chemnitz ein Ost-West-Rockmusical Premiere, Titel: "Knock out Deutschland!", Musik: Rio Reiser, Inhalt: das Überleben in kargen, kalten Zeiten, die Vereinigung als Faustkampf. Die Vorlage für Musicalfigur Harry Hammer lieferte Henry Maske, Boxweltmeister aus Frankfurt/Oder, einer, der es geschafft hat. Doch hart erboxtes Glück ist im Kapitalismus flüchtig. Schon warnt der betrunkene Trainer: ",Ein Boxer ist niemals ein Held - und irgendwann wird er ausgezählt."

      Hammer sei fertig, sagt Reiser: "Der ist auf den letzten hundert Metern." Und so komme er sich auch vor. Wie hält Hammer durch? "Der kann doch nicht einfach sagen: `Laß es seinī, und aus dem Ring gehen." Hammers Job, seine Kunst bestehe darin, durchzuhalten - so beschreibt Reiser das Wesen des Boxers und zugleich sich selbst. Als Kopf von Ton Steine Scherben war Rio Reiser Deutschlands schillerndster Popstar: ein Maulheld, der auf alles eine Antwort hatte. Ein sympathischer Revoluzzer, der sich an keine ideologischen Vorgaben hielt. Ein Schwuler, der sich, gegen die Prüderie der 68er-Sexprediger, zu seinen Vorlieben bekannte.

      Heute fragen ihn junge Fans auf seiner Lesereise, bei der er seine Autobiographie "König von Deutschland" vorstellt, fast nur nach seinem Aufbruch mit Ton Steine Scherben. Für ihn ist das "reine Nostalgie". Er habe keine Lust, wieder seinen langen schwarzen Ledermantel hervorzukramen und nach jedem Konzert ein Haus zu besetzen: "Das wäre 'ne reine Museumsshow."

      * Rio Reiser / Hannes Eyber: König von Deutschland. Kiepenheuer & Witsch, Köln; 304 Seiten; 29,80 Mark.

       

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