U - Boot
In Niederroden war Rio mit der Schule fertig. Das Prüfungsverfahren Schule hatte er abgeschlossen die Schule hatte er nicht bestanden. "Setzen! - Sechs!" Er kam in die Dunkelkammer. Er hatte durchgesetzt, mit der Schule abzubrechen und eine Lehre zu beginnen. In Offenbach Biber entwickelte er Urlaubsbilder und was die Kunden sonst noch so in ihrer Freizeit fotografierten.
Zwar wollte er dieses Leben nicht auf Dauer führen, wenn er träumte, dann nicht von einem Eigenheim in Niederoden - nebenbei gesagt: auch nicht von einem Bauernhaus in Fresenhagen - auch nicht davon, wie Herbert von Karajan, im Dirigentenfrack vor einem erlesenen Publikum zu stehen. Nein, wenn er träumte, dann wollte er nicht darüber reden. Was man sich beim Anblick einer Sternschnuppe wünscht, soll man ja auch niemandem erzählen. Bei Egon und Edith Z. in Biber brauchte man junge Leute, die schnell begriffen nicht viel fragten, wie eine Fachkraft die Maschinen bedienten, und nicht mehr kosteten als ein Lehrling.
Dort fragte niemand nach beruflichen Perspektiven, die gabīs dort nämlich nicht. Die Meisterin hütete sich solche Fragen zu stellen und war taub, wenn ihre Lehrlinge diese Frage stellten. Rio warīs recht. Das Fotolabor war sein U-Boot. Hier war er abgetaucht. Daheim war erst mal Pause mit den Verhören.
"Du willst doch Musiker werden?"
"Ja."
"Aber dann mußt Du doch eine Musikhochschule besuchen ?"
- Schweigen -
"Und wie willst Du das machen ohne Abitur? So hast Du doch überhaupt keinen Abschluß."
"Abschluß Fotogeselle - zufrieden?"
"Ach Ralph redīdoch keinen Quatsch, Du willst doch Musiker werden"
" Ja"
"Aber dann mußt Du doch eine Musikhochschule besuchen."
"Und dazu brauche ich einen Abschluß."
" Na das sage ich doch."
Warum brauchte man einen Abschluß? Um E-Gitarre zu spielen brauchte man einen Anschluß und das Geld für eine Supreme Gesangsanlage, einen Selmer-Gitarrenverstärker, kein Abitur. Das U-Boot Photolehre hatte noch einen zweiten Vorteil, man tauchte damit unter das Mittelklassenniveau, verließ das Obergeschoß und kam in den Keller oder erreichte durch den Gully die Kanalisation. Hier unten, nicht da oben, wo die Akademiker paukten, wurde die Zukunftsmusik gemacht. In Banden, nicht in Hochschulklassen. Lehrling und Gammler machten diese Musik, Oberschüler und Studenten machten immer noch Jazz oder klampften französische Chansons.
Während die deutschen Rundfunkanstalten sich weiterhin schwer damit taten die Pilzköpfe zu spielen, und lieber Peter Alexander und Katharina Valente auf den Plattenteller legten, rottete sich in jedem Jugendhaus, in jedem zweiten Partykeller, in jeder dritten Garage, der musikalische Untergrund zusammen. Gerüstet mit Verstärkern und Instrumenten die teurer waren als ein Pianoforte oder die Studiengebühren einer Musikakademie, tüftelten dort die Bands in Winnetous Garagen an Strategien für ihren raketenhaften Start. Hinauf in den intercontinentalen Starklub der Rockmusik, wo man Millionen verdiente und sich die Groupies nach ihren Idolen verzehrten.
Die Fantastischen Vier
Auch in Niederroden, der Neubausiedlung auf dem Spargelacker waren die Häuser unterkellert. Auch hier bebte das Pflaster, riß der Asphalt. Auch hier pflegte man in Hobbykellern und Garagen "Iltischi" und "Hatatitla", "Blitz" und "Wind" die Rappen von Winnetou und Old Shatterhand.
Burning fire!
The house of rising sun"
"Nochmal, das wars noch net"
Gleich in der Nachbarschaft war so ein Rock Raketensilo im Hobbykeller stationiert.
"Beatkinks" nannte sich die Band. Ihr Anführer hieß Ralph, wie Rio, war fünf Tage jünger, sah aus wie Harpo Marx, hatte drei Schwestern und einen Bruder und eine Mutter die Französin war. Sein Vater, war, wie Rios Vater, Ingenieur. Die Beiden bleiben von da an zusammen, auch wenn der Streit darüber, wer die Zigaretten bezahlt, die sie beide rauchten, nie ein Ende nahm. Rio wurde Sänger bei den Beatkinks. Aber er war auch weiterhin Benjamin bei der "Fantastischen Vier", das war keine Band, sondern der harte Kern des Hoffmanns Comic Theaters, das ebenfalls in Niederkommen, wie Rio, der Fotolehrling auf Tauchstation, oder ins Trockendock gegangen war. Gerd und Peter hatten in Nürnberg ihr Wandertheater eingemietet, wohnten wieder in der Familie und arbeiteten in Frankfurt als Jugendleiter. Sie hatten ihre Weggefährten, Blalla, den Schmutz und Schund Professor Pest A. Lozzi. und Ignaz Semmel ( Dietmar Roberg) der Jesuitenzögling aus Bamberg mitgebracht. Die wohnten nun bei der Familie Möbius im Keller. Nach Picasso und Rosseau waren diese vier Privatdozenten, außerhalb Frankreichs, weltweit die einzigen Kapazitäten im ägyptisch-modernen Stil und das gleich in mehreren künstlerischen Disziplinen.
Vor allem Blabla, der nicht nur wie Ismael aus Melvilles Roman, "Moby Dick" dem weißen Wal ins Auge gesehen, und den Untergang der "Pequod" überlebt hatte, sondern auch meisterlich seine Abenteuer in der Galaxis malte, war Rios Lehrer. Machten die beiden nicht Überstunden - Blalla auf dem Bau um seine Auswanderung nach Amerika zu finanzieren und Rio in der Dunkelkammer oder im Keller bei den Beatkinks, dann bekam er von Blalla die lebenswichtige Bedeutung solcher Sentenzen erläutert wie:
"Viel Fleiß, viel Scheiß"
Man soll die Küche verlassen, wenn es einem darin zu heiß wird"
"Gutes paßt zu Gutem"
"Es geschehen immer mehr Zeichen als Wunder"
oder: "Beim Abseilen ist zu berücksichtigen, daß man sich genügend Kräfte für den Wiederaufstieg bewahrt."War Blalla, der Häuptlingssohn eines transgalaktischen Zigeunerstamms als "agent provocateur" und "undercoveragent" auf terra eingeschleust worden, um die Erziehung der Menschenkinder nicht allein dem Doktor Hoffmann aus Frankfurt zu überlassen, dann war Ignanz Semmel einer, dem es auf Fürbitte des heiligen Ignatius von Loyla vom Allmächtigen gestattet worden war von der Barockzeit ins Zwanzigste Jahrhundert einzuwandern.
Dem Allmächtigen wird es dabei nicht entgangen sein, daß dieser Franke aus Bamberg, so einen Zeitsprung nicht das erste Mal machte. Er hatte schon im Heer des Großen Alexanders mitgekämpft, in Römischen Legionen gedient und als Knappe fränkischer Ritter an den Kreuzzügen teilgenommen. Es gab niemanden der noch daran zweifelte, hatte er einmal seinen Erzählungen zugehört. Abgesehen von den ganz unterschiedlichen deutschen Landschaften, in den Rio als Zugereister, als Fremder, aufgewachsen ist - was es einem leichter macht, als den Einheimischen, die Besonderheiten lieb zu gewinnen - waren es solche Menschen wie Blalla, wie Roberg, oder ein Peter Erlach, bei denen Rio, der König von Deutschland, die Konturen und die Grenzen einer Kulturlandschaft kennenlernte, die überhaupt nichts mit der tagesschaudeutschen Wetterkarte in den Grenzen von 1938 zu tun hatte. Dieses Deutschland, wenn es als Einheit überhaupt irgendwie vorhanden war hatte entweder keine Mauer, oder hatte nicht nur eine, sondern viele Grenzen, zwar wurde an diesen Grenzen nicht geschossen, aber es gab sie, nicht nur zwischen Bundesländern und Dialekten, Einheimischen und Zugereisten, Zonenflüchtlingen und Sudeten, Schlesiern und Spaghetti, Spätzleessern und Knoblauchfressern, Schützenvereinen und Karnevalisten, Schalke und Bayern München. Sie alle waren sich im Alltag nicht grün und mußten trotzdem miteinander leben, auf der Arbeitsstelle und als Nachbarn. Die Anleitungen die für dieses Zusammenleben von den politischen Parteien, von den Regierenden kamen deren Tages- und Wahlparolen hatten nicht einmal die Qualität einer Gebrauchsanweisung, eines Beipackzettels für Aspirin. Jeder Billige Jakob, jeder Zwiebelschneiderverkäufer auf der Straße überzeugte besser.