Treue
Die Scherben fuhren nach Berlin zurück um ihre Platte fertig zu machen. Dort erreichte sie die Liste ihrer Verbrechen, zusammengestellt von der Staatsanwalt Flensburg.
Wäre es zur Anklage und Verurteilung gekommen hätte Rio, wie Karl May, seine Hauptwerke hinter Gefängnisgittern in Flensburg oder Moabit gedichtet und komponiert. Zu einer Gerichtsverhandlung kamīs nicht. Die Anklage wurde fallen gelassen. Aber von da waren Rio und die Scherben "sicher ".Auf allem was sie taten, ob privat oder als Band ruhte das wachsame Auge des Staates. Rio war diese Nähe gewöhnt. Als Gymnasiast in Nürnberg wohnte er direkt neben der Polizei und oft flimmerte nachts in seinem Zimmer das Blaulicht von gegenüber. Und in der Feldzeugmeisterstraße sah er auf den Kasernenhof der Bereitschaftspolizei.
Jetzt hatten er und die Scherben immer einen Beschatter, manchmal waren es auch mehr. Und manchmal kamen sie auch - unangemeldet - in Uniform mit Maschinenpistolen bewaffnet zu den Scherben auf Besuch.
Das Bundeskriminalamt und seine Mitarbeiter blieben Rio treu, treuer als mancher seiner Freunde. Sie blieben es, meistens diskret und unauffällig, bis zu seinem Lebensende. Sie kondolierten sogar: "Von denen, die ihn immer begleitet haben" stand auf der Trauerkarte.
Besetzt
Die ständige Vertretung des Staates in der Nähe von Rio Reiser und den Ton Steine Scherben hatte zwar nach dem Festival der Liebe begonnen, aber es gab danach immer wieder einen neuen Anlaß der Stimme dieses Sängers, zuzuhören, ob sie nun telefonierte, oder über ein Mikrofon durch die Lautsprecherboxen dröhnte. Besonders da war für einen Verfassungsschutzbeamten höchste Aufmerksamkeit geboten und höchste Alarmbereitschaft war angesagt, wenn sich ein "Scherben-Konzert" dem Ende näherte. Einmal hatten sie schon nicht aufgepaßt, da hatte Rio - es war wohl das erste mal in der Geschichte der Bundesrepublik - dazu aufgefordert ein leer stehendes Haus in Kreuzberg zu besetzen. Die Studenten hatte es nicht gekümmert. Aber das Haus war dennoch von 120 Jugendlichen aus Kreuzberg besetzt, die auch ohne die Studenten auskamen. Und die Polizei? Mensch Meyer! Die wußte davon nichts. Einer der Hausbesetzer mußte sie heimlich alarmieren, damit der Besetzerakt in die Öffentlichkeit kam. Ein Haus besetzen und keine Bullen, so gings ja wohl nun auch nicht? Tschuldigung, kommt nicht wieder vor. Das nächste Mal gings dann schon besser, Dezember 1971. wieder hatten die Scherben in der alten TU-Mensa gespielt und wieder hatte Rio etwas angesagt. Als sich das Publikum erhob und die Mensa in der Hardenbergstraße verließ, blieben alle zusammen und machten sich auf den Weg nach Kreuzberg. Bethanien sollte gerettet werden, ein Krankenhaus am Mariannenplatz. Es sollte abgerissen werden. Bauspekulanten machten das Viertel systemastisch platt. Die Autobahn sollte dort bis an die Berliner Mauer führen.
Rio hatte die geplante Besetzung von Bethanien angesagt. Als die Studenten auf dem Mariannenplatz ankommen waren, warteten dort schon die Polizeihundertschaften auf sie. Aber das Haus war besetzt, verrammelt und verriegelt. Die Kreuzberger Prollis waren schneller und hatten sich vor dem Eintreffen der Polizei in Bethanien eingeigelt. Vier Tage zuvor, am 4. Dezember 1971, wurde der von der Polizei gesuchte Student, Georg von Rauch erschossen. "Georg Lebt" stand danach an vielen Häuserwänden nicht nur in Berlin. Das Haus in Bethanien wurde als autonomes Jugendzentrum in Besitz genommen und bekam den Namen des erschossenen Georgs.