Im Land der Wassertürme
In Bayern hatte es noch geschneit, hier in der Kurpfalz warīs schon Frühling. Die Berge des Odenwalds in der Ferne sahen ganz gemütlich aus und waren wahrscheinlich überhaupt nur dazu da die Heidelberger Schloßruine zu umrahmen, damit die GIs aus dem Headquartier der US-Armee für ihre Lieben in Amerika schöne Postkarten von Old Germany bekamen. Das Land war flach und wo in Bayern Kirchen standen gabīs hier in jedem Ort einen Wasserturm. Weder Rhein noch Neckar sahen so aus als würden Menschen darin ertrinken, versanken doch selbst Panzer nicht, wenn sie auf eisernen Pontonbrücken das Wasser überquerten. Und in den Wasserspielen des Schloßparks - zum Greifen nah, der Schloßpark, als Aussicht vor dem Fenster - konnte man ohne Gefahr planschen Dieser Schloßpark in Schwetzingen - war ebenso verwunschen wie die Insel Herrenchiemsee des Bayernkönigs Ludwig und man kam dahin, ganz schnell und leicht, ohne lange im Beiwagen zu sitzen. In diesem Park gab es wasserspeiende Hirsche, Römische Ruinen, ein Theater und eine Moschee. Und der Salzburger Wunderknabe, dessen Musik die Familie Sonntags vor dem Mittagessen gern im Rundfunk hörte, war hier schon mal zu Gast gewesen, so erzählte Mutter, die Tochter des östereich-ungarischen Opernspezialisten.
Onkel Paul
Jedenfalls spielte man zu Peters Konfirmation im Schwetzimger Rokokotheater Mozarts "Deutsches Singspiel": "Die Entführung aus dem Serail". Und die Familie schaute sich das an, weil Peter sich das wünschte. Rios großer Bruder wollte zum Theater, wollte Künstler werden. Und bastelte Zuhause mit Tuschkasten, Klebstoff und Karton Bühnenbild Modelle, auf denen er zur Opernmusik aus dem Radio der Familie seine von Taschenlampen beleuchteten Inszenierungen vorführte. Das hatte es in der Familie noch nicht gegeben, daß einer wirklich Künstler werden wollte, als Beruf! Mutter hatte zwar Klavier gespielt und im Kirchenchor zusammen mit ihrem Herbert im Kirchenchor gesungen. Ihr Vater hatte beim Haarschneiden Opernarien geträllert, Uropa, der Koksschipper im Gaswerk, hatte im Neukölner Musikverein Tenorhorn gespielt, und Onkel Paul, der "Suffkopp" - so sprachen seine Schwestern Martha und Othilie von ihm - war zwar musikalisch außerordentlich begabt, galt aber als "verkommenes Genie". Er hatte nicht der Kunst, sondern als Mitropaschaffner der Deutschen Reichsbahn gedient. Paul war das Paradebeispiel für das künstlerisches Talent als Krankheit: Sie führte, so meinten die meisten in der Verwandtschaft, zur Entartung zur Lebensuntüchtigkeit, in die Trunksucht und den Wahnsinn.
Herbert Möbius hatte einen anständigen Beruf, aber er war kein strenger Vater - hatte eben nie auf einem Kasernenhof gestanden. Er ließ die Sache treiben, schaute untätig dabei zu wie Erika mit dem Feuer spielte und das künstlerische Talent ihres Peters förderte, anstatt es zu bekämpfen. Reichte es denn nicht, das der Junge Linkshänder war, nun sollte er auch noch Künstler werden? Wieder einmal bekam er alles was er brauchte, - zum Beispiel Pastellkreiden, Oelfarben und eine Staffelei, denn musikalisch war er nicht.
Die Zauberharfe
Das Klavier, das alle Bombenangriffe und Umzüge überstanden hatte, stand im Wohnzimmer und wartete auf Weihnachten, denn dann setzte sich Mutti an ihr Klavier und spielte Weihnachtslieder, manchmal, aber selten, kam Frau Hübner aus der Nachbarschaft und brachte es mit ein paar flotten Schlagermelodien zum Klingen.
"Ralli" hörte gerne dabei zu. Ganz allein mit diesem dunklen hölzernen Tier, das Zähne aus Elfenbein und Mahagonny hatte, entdeckte er das Innere dieses Schranks der Klänge aufbewahrte.
Die Wohnung war leer. Die Familie zog wieder einmal um, von Traunreut nach Brühl, von Brühl nach Schwaben, von Schwaben noch Nürnberg? Jedenfalls, bei einem dieser Umzüge, war er ganz allein mit diesem Tier "Klavier". Die Möbelpacker hatten schon die Rückwand abgenommen, und Rio war berauscht von den Klängen der Zauberharfe, wenn er die straff gespannten Drähte mit den Händen berührte. Er nahm sich vor, diesen klingenden Rappen eines Tages zu zähmen und zu reiten, wie, das wußte er noch nicht. Er wußte nur, dazu brauchte er keinen Lehrer.
Ein Klavier wurde g e s p i e l t und Spielen war das Gegenteil von Schule. Er konnte sich Zeit damit nehmen, keiner verlangte von ihm, ein Wunderkind werden zu müssen, wie dieser Mozart eines gewesen war. Alle Erwartungen konzentrierten sich auf Peter, den Ältesten.