Alptraum und Märchenkönig
Das jüngste der drei Möbiuskinder fühlte sich in Traunreut nicht wohl. Der Wald war groß und finster, die Traun war reißend und die Alpenkette sah aus wie eine mächtige Reihe schweigender Riesen hinter denen sich entweder das Weltenende verbarg oder eine angsteinflößende Ferne.
Eines Tages nach dem Abendrot fraßen diese Riesen mit ihren feuerroten Zungen das Schloß Perchenstein, Alles war auf den Beinen und der Himmel war die ganze Nacht blutrot vom Feuerschein. Wenig später war sie ganz in Rios Nähe, die Feuerzunge der schrecklichen Riesen, deren Namen jeder kennen mußte :Unterberg, Hochfelln, Hochgern, Watzmann, Kampenwand.
Schreiend floh das Kind. als direkt vorm Haus eine Baubude in Flammen aufging. Zeitlebens fürchtete sich Rio seitdem vor Feuer, und für große Höhen, ob Berggipfel oder Wolkenkratzer hatte er nichts übrig. Aber auch das Wasser war gefährlich, wie sich die Erwachsenen erzählten. Der Chiemsee war groß, man konnte nicht zum anderen Ufer sehen, und wenn plötzlich Sturm aufkam ertranken darin viele Menschen, gekentert in ihrem Segelboot. Aber mittendrin auf einer Insel gab es das Schloß des Märchenkönigs. - Rio hat es mit eigenen Augen gesehen, und seitdem wußte er, daß es nicht nur das Schreckliche gab, von dem die Märchenbücher erzählten, sondern auch das Wunderbare: Die blaue Blume, das Wasser des Lebens und zum guten Ende wurde der Jüngste von drei Brüdern sogar König.
Er war auch in dem Haus in dem ein Wunderkind geboren worden war: "Mondzart", von dem das Lied war, das er vom Einschlafen gern hörte: "Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein." - Die Familie ging nämlich am Wochenende auf Bildungsfahrt: nach Salzburg, in den Chiemgau, nach Kufstein Berchtesgaden, zum Königssee und nach Bad Reichenhall. Entweder im Bus mit der Volkshochschule oder im Beiwagen und auf dem Rücksitz von Vaters Motorrad. Bis zum Wolfgangssee tuckerte das Motorrad über die Serpentinen der alpinen Riesen.
Warum man solange im Beiwagen gequetscht sitzen mußte, nur um an einem verregneten See das Wirtshausschild vom "Weißen Rössel" zu betrachten, blieb - wie so Vieles - ein Geheimnis der Erwachsenen.
Oma und Mutter jedenfalls waren ganz seelig und trällerten: "Was kann der Leopold dafür, daß er so schön ist" und schwelgten in Erinnerungen an Berlin und Opa - den im Krieg verschollenen Friseur, wegen dem Oma immer noch täglich um Halbeins den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes abhörte. Opa hatte keine Oper und keine Operette ausgelassen und konnte jede Arie singen. Er war als Ungar aus der Donaumonarchie nach Berlin gekommen und liebte die Musik.
Pappherr
Die Geigers und Siegesmunds zogen fort, andere Traunreuter Familienväter mit eingemotteter Wehrmachtsuniform im Kleiderschrank, auf dem Dachboden oder im Keller, überlegten es sich noch. Theodor Blank, Konrad Adenauers frischgebackener Verteidigungsminister, rief zu den Fahnen. In Andernach bei Bonn, wurden Ausbilder für die Bürger in Uniform gebraucht. H.P. Möbius, hatte als Lehrling an der Drehbank in der Berliner Siemensstadt angefangen, zum Schleifer eignete er sich nicht, weder bei der Bundeswehr noch als Erzieher seiner Kinder. Seine Mittelohrentzündung als Kind hatte ihn auf einem Ohr schwerhörig gemacht, besonders, wenn das Vaterland nach ihm rief. Möbius, der Ingenieur, war im Krieg UK (für den Frontdienst unabkömmlich) und nach dem Krieg OK. Der CVJM - "Christlicher Verein Junger Männer" - der Kirchenchor der Mattheit Gedächtniskirche zu Berlin Tiergarten, der "Verein Deutscher Amateurfotografen", der Verein Deutscher Ingenieure und der Bund fürs Leben mit Erika Braun, gehörten nicht zu den Verbindungen, die als N..S. - belastet galten. Und andere Verbindungen waren H.P.M. nicht eingegangen.
Nun löste er auch seinen Vertrag mit seiner "Firma". "Pappherr" - den Spitznamen bekam er in der Familie, seitdem Verpackungen sein berufliches Spezialgebiet geworden waren - nahm Abschied von Väterchen Siemens und wechselte zur ZEWA nach Mannheim-Neckarau. So packten dann auch in der Köttgenstraße die Möbelpacker. Rios zweiter Umzug, von den fünf, die die Familie machte, ging nach Brühl in die Kurpfalz.
Vor seiner Kindheit in Traunreut ist allerdings nicht nur die Angst vor Alpenglühn und großen Höhen zurückgeblieben, sondern er hat in Bayern auch die erste Bekanntschaft mit wirklicher Volksmusik gemacht. Mehr als die Berliner Insulaner und Mozarts "Kleine Nachtmusik" mochte er den Wastl Fanderl und die Fischbachauer Dirndl.
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